Rittertum und höfische Kultur: Vom Krieger zum Edelmann

Rittertum und höfische Kultur: Vom Krieger zum Edelmann
Rittertum und höfische Kultur: Vom Krieger zum Edelmann
 
Uns ist in alten maeren / wunders vil geseit / von helden lobebaeren / von grôzer arebeit, / von vreude und hôchgezîten / von weinen und von klagen, / von küener recken strîten / muget ir nu wunder hoeren sagen.« — Vom Kampf der kühnen Recken und von ruhmreichen Helden kündet das Nibelungenlied um 1200, von vil stolziu rîterschaft und hoher Festlichkeit, und so hören wir es gerne. Wohl keine Figur verkörpert im allgemeinen Bewusstsein so selbstverständlich mittelalterliches Leben wie der edle Ritter, kaum ein Ort gilt als so typisch mittelalterlich wie die stolze Burg, die sich noch heute malerisch über manchem Tal erhebt. Und doch sind beide, der Ritter und seine Burg, erst relativ spät entstanden, im 11. und 12. Jahrhundert, und sie hatten nur eine vergleichsweise kurze Blütezeit von gut hundert Jahren.
 
 Schwache Könige und neue Herren
 
Die Anfänge des europäischen Ritters waren alles andere als edel und stolz. Es waren rohe, unzivilisierte Haudegen, denen es im 9. und 10. Jahrhundert gelang, die Schwäche des westfränkischen Königtums zu nutzen und sich selbst zu Herren aufzuschwingen. Gegen die sarazenischen und die normannischen Räuber, die von Spanien oder von den Flussmündungen der Loire und Seine her immer wieder ins Landesinnere vordringen, Dörfer und Klöster niederbrennen und Beute fortschleppen, ist der König machtlos. An eine koordinierte Abwehr ist nicht zu denken. Im allgemeinen Chaos bedeutet es schon viel, wenn einer wenigstens ein kleines Stück Land verteidigen kann, einen hölzernen Turm und einen Palisadenzaun errichtet, der bei Gefahr auch den Bauern der Umgebung Schutz bietet. Keiner fragt, wer die Schutzherren sind, Grafen aus altem Adel oder frühere Pferdeknechte; was zählt, ist die Macht des Stärkeren, die schiere Gewalt. Die verängstigten Dorfbewohner und Klosterleute schließen sich in ihrer Not den neuen Herren dankbar an, erfahren aber auch bald, wie die Beschützer zu Unterdrückern werden, die sich ihren Schutz teuer bezahlen lassen, indem sie Dienste und Abgaben erpressen. Ihre Methoden sind nicht anders als die der fremden Räuberhorden. Die frühen Ritter waren Abenteurer ohne jede Romantik, Gewaltmenschen ohne jede Ritterlichkeit.
 
Es war eine Herrenschicht entstanden, eine kriegerische Elite zumal, die mit Pferd, Schwert und Lanze gleichsam in einem rechtsfreien Raum operierte. Sie musste auf gesellschaftliche Anerkennung und auf rechtliche Fundierung ihrer Herrschaft drängen, sollte die einmal errungene Position auf Dauer erhalten werden. Der soziale Ort, der zur Identifikation einlud, war der Adelshof, die Rechtsform, die Macht und Lebensweise legitimieren konnte, war die Vasallität. Die neuen Herren drängten an den Hof, strebten nach Lehen aus Fürstenhand, stellten sich als Vasallen in fürstliche Dienste. Zur Herrschaft kam der Dienst; durch ihn erst wurde der Krieger eigentlich zum Ritter. Während das deutsche Wort die Funktion des Reiterkriegers betont, haftet dem englischen knight — eigentlich der »Knecht« — noch die ursprüngliche Bedeutung des unfreien Dienstmannes an.
 
Es liegt auf der Hand, dass der Adel seinerseits daran interessiert war, die hochgerüsteten und kampferprobten Aufsteiger an sich zu binden. Während in Frankreich die Fürsten die usurpierten Burgherrschaften in der Normandie und in Flandern, in der Provence und in Burgund in Lehnsbindungen umwandelten, besetzten in Deutschland die salischen und staufischen Könige von sich aus herrschaftliche Positionen mit unfreien Dienstleuten. Da diese Ministerialen ohne den Dienstauftrag ihres Herrn — in Form eines Lehens — keine eigene Machtbasis hatten, war von ihnen mehr Loyalität zu erwarten als von edelfreien Vasallen. Je mehr ein selbstbewusster fürstlicher Adel im 11. und frühen 12. Jahrhundert den Handlungsspielraum des deutschen Königs einzuengen drohte, umso mehr zog dieser als Gegengewicht (ministerialische) Ritter in seinen Dienst.
 
 Waffendienst als Gottesdienst
 
Der Ritter war ein hoch spezialisierter Berufskrieger. Der Kampf zu Pferde mit der Stoßlanze, der wohl erst im 11. Jahrhundert entwickelt wurde und sich dann rasch in Europa verbreitete, erforderte spezielle Ausbildung und ständiges Training für Reiter und Pferd. Aber ohne verbindliche Verhaltensregeln war der Ritter gefährlich. Als Bernhard von Clairvaux 1146 zum Kreuzzug aufrief, prangerte er die selbstzerstörerische Kriegslust der Ritter an: »Aufhören soll jene Ritterart, nein, Ritterunart von ehedem, nach der ihr einander niederzuwerfen, einander zu verderben pflegt und einer den anderen umbringt. .. Wahnsinn ist es, nicht Mut, solch einem Unrecht zu frönen; nicht als Kühnheit, vielmehr als Schwachsinn muss man es bezeichnen!« Unter sozialgeschichtlichem Aspekt war die bewaffnete Pilgerfahrt ins Heilige Land auch ein Beschäftigungsmanöver für die Ritter, das die Gesellschaft vor ihren Übergriffen schützen sollte, indem es ihr aggressives Potenzial nach außen lenkte.
 
Im Innern versuchten Gottesfrieden, zuerst in Südfrankreich und Burgund, die verheerendsten Auswüchse einzudämmen. Sie geboten unter Androhung der Exkommunikation Waffenruhe für bestimmte heilige Wochentage (von Mittwochabend bis Montagmorgen) und Jahreszeiten (Advent und Weihnachten, Fastenzeit, Ostern und Pfingsten). Kirchen und Klöster, Bauern und Kaufleute, aber auch Vieh, Weiden, Äcker, Weinberge und Ackergerät wurden unter besonderen Friedensschutz gestellt. Weniger moralische Skrupel als die Sorge um den Erhalt ihrer materiellen Ressourcen motivierte die Fürsten und Bischöfe zu kollektiven Friedensmaßnahmen. Dies konnte freilich nur dann gelingen, wenn auch der Adel für sich selbst die Fehde einschränkte und festen Regeln unterwarf.
 
Das heißt nicht, dass die adlig-kriegerische Umwelt des hohen Mittelalters mit einem Mal friedlich geworden wäre. Aber die Erfahrungen mit der ungebändigten Kriegslust hatten die Herren die Vorteile des Friedens oder zumindest befristeter Waffenruhen schätzen gelehrt und zum Verzicht auf hemmungslosen Fehdegebrauch bewegen können. Es war das Verdienst insbesondere der Cluniazenser und der Zisterzienser, dass sie den Gottesfrieden — wie auch den bewaffneten Kreuzzug gegen die Heiden — als Dienst für Gott und für Christus geistlich begründeten. Dadurch wurde der Dienst aus der Sphäre der unfreien Knechtschaft herausgehoben und gesellschaftlich akzeptabel, sodass selbst der hohe Adel bereit war, sich zu »ritterlichem« Dienst zu verpflichten.
 
 Leitfigur der höfischen Gesellschaft
 
Die Nähe zum Hof, die Indienstnahme durch den Adel verschaffte dem Ritter die gesellschaftliche Anerkennung, die er suchte. Der Preis, den er dafür zahlen musste, war die Bindung an das Recht und die soziale Domestizierung. Gleichzeitig aber faszinierte das — zunächst theologisch begründete — Ethos des Dienens, das sozusagen für die Ritter entwickelt worden war, bis in die höchsten Schichten der Gesellschaft: Es galt als vornehm, ritterlich zu leben. Kaiser Friedrich Barbarossa ließ zu Pfingsten 1184 auf einem glanzvollen Hoffest in Mainz seine beiden Söhne, König Heinrich und Herzog Friedrich, zu Rittern weihen. 70000 Ritter sollen dabei gewesen sein; sie waren aus allen Teilen des Reiches gekommen, aber auch aus Flandern und Burgund, Frankreich und England. Der Kaiser führte das ritterliche Tur- nier an, an dem mehr als 20000 Ritter teilnahmen. Die Zahlen sind gewiss übertrieben, deutlich aber ist: Rittertum ist international und ständeübergreifend. Ritter sind alle, von den Kaisersöhnen und hohen Fürsten bis zu den kleinen Herren, die im Gefolge eines Herzogs oder Grafen zum Hoftag gekommen waren, ja der Kaiser selbst präsentierte sich im Kreise der Ritter.
 
Der Ritter war zur Leitfigur der höfischen Gesellschaft geworden. Der staufische Kaiserhof, wie andere Fürstenhöfe in Europa auch, war die Bühne, auf der ritterliche Lebensart sich wirkungsvoll in Szene setzen konnte. Hier trat der »gewappnete« Ritter so auf, wie ihn die Dichter beschrieben und wie er noch heute in unserer Vorstellung weiterlebt, mit geschmücktem Waffenrock, mit Wappen, Wimpel und Helmzier, auf prächtig aufgezäumtem Streitross, so wie einst der junge Siegfried mit seinen Rittern nach Worms gezogen war: »Sein Vater hieß ihn zieren sein ritterlich Gewand, / Und ihre lichten Panzer, die wurden auch bereit, / Auch ihre festen Helme, die Schilde schön und breit. / Schön waren ihre Rosse, ihr Zaumzeug goldesrot. / Die langen Schwerter reichten bis nieder auf die Sporen,/ Es führten scharfe Speere die Ritter auserkoren. / Goldfarbene Zäume führten sie in der Hand; / Der Brustgurt war von Seide. So kamen sie ins Land.«
 
 Alter und neuer Adel
 
Wie jede Bühne war auch diese der Wirklichkeit entrückt. Die stilisierte Ritterlichkeit der Hoffeste war nicht der Alltag. Aber der Ritter zehrte vom höfischen Glanz, den er zugleich bereicherte. Denn indem er in adligem Dienst Herrschaft ausübte und zu Hoftagen und auf Turnieren an der Seite fürstlicher Herren ritt, übernahm der Ritter nach und nach auch Standesattribute und Selbstbewusstsein des Adels. Wie dieser seit dem 12. Jahrhundert begann, lokale Herrschaftszentren auszubilden und sich nach diesen Stammsitzen zu benennen (»von Zähringen«, »von Staufen«), so wurden Burgen auch namengebend für ritterliche Familien. Aber mehr als die Adelsfamilie, deren Stammburg — teils als bevorzugte, aber nicht ausschließliche Residenz — lediglich ein aus vielen Quellen gespeistes dynastisches Bewusstsein repräsentierte, bezog die ritterliche Familie aus ihrer (zumeist einzigen) Burg selbst soziale Identität. Der Ritter war »Herr« durch seine Burg. Manche, wie die Herren von Bolanden, von Annweiler, von Münzenberg (die sich nach ihren Burgen in der Pfalz und der Wetterau nannten), führten Wappen wie edelfreie Herren, heirateten adlige Töchter; ihre Burgen, ursprünglich zu Lehen gegeben, gingen bald in erblichen Besitz über.
 
Gewiss gelang nicht allen Rittern der Schulterschluss mit dem fürstlichen Adel. Der Herr einer kleinen Burg konnte sich nicht mit dem Reichsritter messen, der am Kaiserhof verkehrte und zu den Beratern des Kaisers gehörte. Doch unter dem Druck der aufsteigenden Ritter formierte sich der alte Adel insgesamt neu. Wo die Funktionen und Verhaltensmuster, sogar die Statussymbole sich angeglichen hatten, achteten die fürstlichen Herren nun genauer darauf, wer aus ministerialisch-ritterlicher und wer aus edelfreier Familie stammte. Jetzt erst, im späten 12. und 13. Jahrhundert, begann der hohe Adel, die Reichsaristokratie, sich nach unten gegenüber dem niederen Adel und den Rittern abzuschließen. Eine vergleichbare Entwicklung nahmen der französische und der englische Adel. Hier hoben sich die Barone zunehmend von den Rittern ab, in England mit der bis heute nachwirkenden Differenzierung von (hochadliger) nobility und (ritterlicher) gentry.
 
 Ritterliche Tugenden und höfische Kultur
 
Die Dichter und die geistlichen Autoren der Zeit wussten genau, wie ein guter Ritter zu sein habe. Sie wurden nicht müde, die Tugenden des Ritters zu preisen oder mahnend einzuklagen, denn: »Ohne Tugend ist Adel nichts wert« (Freidank, um 1220/30). Besitz und Herrschaft verpflichten zu einem bestimmten ethischen Verhalten, zur umsichtigen Nutzung des Besitzes, zu Freigebigkeit und zu maßvoller Herrschaft. Was seit jeher für den Adel galt — wenn auch freilich nur selten realisiert —, wird auch für die Ritter verbindlich. Indem sie adelige Lebensformen angenommen haben, müssen sie sich auch an den ethischen Normen des Adels messen lassen.
 
An der Spitze der ritterlichen Tugenden steht die triuwe. »Treue« meint ursprünglich weniger eine ethische als eine konkret rechtliche Verpflichtung, die Bindung des Vasallen an seinen Herrn. In einem weiteren Sinne erstreckt sich die Treuepflicht aber auf alle Bindungen zwischen Menschen, allgemein auf das gegebene Wort, auch auf die beständige Liebe zu Gott. Schon hier wird der Zusammenhang mit den christlichen Tugenden greifbar, die in besonderem Maße das Verhalten des Ritters bestimmen sollen: die staete, die Beständigkeit, das beharrliche Festhalten am Guten und Richtigen; sie wird ergänzt und gegebenenfalls korrigiert durch die mâze, das maßvolle Handeln unter Vermeidung von Extremen. Diese Tugenden verpflichten den christlichen Ritter zur Wahrung von Frieden und Recht, zum Schutz der Armen und Schwachen, zur Schonung des besiegten Gegners im Turnier wie in der Schlacht, zum Dienst für Gott und seine Kirche.
 
Im äußeren Auftreten zeichnen den Ritter bestimmte Umgangsformen aus, die hövescheit (courtoisie, »Höfischkeit«). Es sind die Konventionen der vornehmen Gesellschaft, festliche Kleidung, gesittetes Speisen und Trinken, Tanz und Spiel, geistreiches Gespräch, auch die respektvolle Haltung zur Frau, das verehrende, dienende Werben um ihre Gunst. Die Minne, die »höfische Liebe«, ist ein gesellschaftliches Spiel zwischen Mann und Frau, wie das Turnier ein Spiel unter Männern ist. Waffendienst und Minne haben eine gemeinsame Wurzel in der Idee des Dienens — hier gegenüber der (oft höher stehenden) Frau, dort gegenüber dem Herrn —, und in beiden konnte der Ritter sein vorbildliches, »höfisches« Verhalten demonstrieren. Durch den selbstbewussten Umgang mit der (durchaus nicht nur platonisch verstandenen) Liebe wurde diese von der sündhaften Fleischeslust zur gottgefälligen Tugend aufgewertet. »Wer behauptet, dass Liebe Sünde sei, der soll sich das vorher gut überlegen. Sie besitzt hohes Ansehen, das man mit Recht genießen soll« (Walther von der Vogelweide). Es sind die Dichter und Troubadoure, die im 12. Jahrhundert die weltliche Liebe entdecken und im wörtlichen Sinne hoffähig machen. In ihren Liedern zelebrieren sie eine geradezu kultische Verehrung der Frau, und nicht zufällig finden sie für ihre Angebetete ähnliche Worte wie für die Gottesmutter in der gleichzeitigen Mariendichtung. Ob unerfüllte, selbstlose Liebe oder erotischer Genuss, die höfische Liebe verändert das Bild der Frau.
 
 Ideal und Wirklichkeit
 
Natürlich steht die Wirklichkeit wieder im krassen Widerspruch zum postulierten Ideal. Gewalt bis zur Vergewaltigung und nicht poetische Anbetung bestimmt das alltägliche Verhalten gegenüber Frauen selbst in höchsten gesellschaftlichen Kreisen. In der dynastisch fixierten Adelsgesellschaft ist die Ehe ein Familienbündnis und dient der Sicherung des Erbes. Ehebruch ist eine Katastrophe, die Rache fordert, kein kokettes Spiel. Dennoch sollte man das Ideal nicht als leere Formel abtun; es ist der Entwurf einer anderen Wirklichkeit, eine gedachte Alternative immerhin: »Ich schelte die Dichtung nicht, auch wenn sie uns Lügen vorführt, denn sie enthält Sinnbilder des Anstandes und der Wahrheit. Sind die Geschichten auch nicht wahr, sie bezeichnen doch sehr deutlich, was jeder Mensch tun soll, der ein vorbildliches Leben führen will.« Der italienische Domherr Thomasin von Zerclaere (bald nach 1200) war vom didaktischen Wert des Vorbildes überzeugt: Es gebe heute keinen Erec und keinen Gawain mehr, »weil es nirgends im Land einen Artus gibt«. Dem Grund besitzenden Ritter lagen Landwirtschaft und Viehzucht näher als die Tafelrunde, und eine Fehde mit dem Burgnachbarn war eher lästig und kostspielig, als dass sie ritterlichen Ruhm eintrug.
 
Was ritterliche Lebensform versuchte, war nicht weniger als der Brückenschlag zwischen der traditionellen geistlichen Lehre und einer neuen weltlichen Hofkultur. Denn der Ritter entscheidet sich nicht entweder für weltlichen Ruhm oder für geistlichen Lohn, sondern er strebt bewusst nach beidem: Der höfische Ritter will zugleich Gott und der Welt gefallen. Walther von der Vogelweide hat das Dilemma wie kein anderer auf den Punkt gebracht: »Ich saß auf einem Stein, die Beine übereinander geschlagen, das Kinn in die Hand gestützt, und dachte lange nach, wie man drei Dinge vereinbaren könnte, ohne eines davon zu schmälern. Zwei sind Ansehen und Besitz (ere und farnde guot); das dritte ist die Gnade Gottes (gotes hulde), die weit mehr gilt als die beiden anderen. .. Aber leider kann es nicht sein, dass Besitz und weltlicher Ruhm und dazu noch Gottes Gnade zusammen in ein Herz kommen.« Und warum nicht? Die Verhältnisse, sie sind nicht so: untriuwe ist in der saze, / gewalt fert uf der straze: / fride unde recht sint sere wunt. — Wo Treulosigkeit und Verrat herrschen, hat der Ritter ausgedient.
 
Walther schrieb seine Verse 1198, mitten in der Blütezeit des Rittertums, und sie klingen schon wie ein Abgesang. Je mehr im späten Mittelalter Söldnerheere und neue Waffentechnik (die im 14. Jahrhundert verbesserte Armbrust, noch nicht die Feuerwaffe!) den schwer bewaffneten Panzerreiter ins Hintertreffen setzten, umso deutlicher wurde der Ritter zur Karikatur seines Ideals. In der Stadt ließen sich reiche Patrizier mit dem Ritterschlag schmücken; Ritter zu werden, war eine Kostenfrage. Gleichzeitig gab es immer mehr Rittersöhne, deren Erbbesitz für ein rittergemäßes Leben zu gering geworden war und für die es kaum noch Aufgaben in fürstlichen Diensten gab. Diese verarmten und sozial heimatlos gewordenen Ritter »spezialisierten« sich unter dubioser Ausnutzung des Fehderechts auf Raubzüge gegen Kaufleute und Reisende. Die Ritter endeten im 15. und 16. Jahrhundert, wie sie begonnen hatten: als Raubkrieger. Die Ursachen waren ähnlich wie in den Anfängen sechshundert Jahre zuvor. Auch jetzt ging es um das Überleben, und weil die Ritter nichts anderes gelernt hatten, blieb ihnen wieder nur die nackte Gewalt.
 
»Stirb, Götz! — Du hast dich selbst überlebt, die Edeln überlebt«, lässt Goethe seinen sterbenden Ritter Götz von Berlichingen sagen. Es starb nicht eine hehre Ritterherrlichkeit; sie hat es nie gegeben, es sei denn in der Dichtung oder in der romantischen Verklärung des 19. Jahrhunderts. Gegeben aber hat es eine höfische Kultur der Ritter. Sie lebt weiter in vielen Formen der kultivierten Geselligkeit und des sozialen Umgangs und als Aufforderung zu einer menschlichen Haltung, für die der Ritter steht, »der in persönlicher Freiheit die Bindung an Gemeinschaft sucht; der über dem Dienst an einer geliebten Sache nicht die gelassene Großmut vergisst. .. Gegen das Trennende, gegen das Chaos der Realitäten und den Fanatismus der Macht, setzt er das Verbindende, das geregelte Spiel« (Arno Borst). Rittertum ist mehr als »höfliche« Etikette und mehr als blasse political correctness. Rittertum ist humane Gesinnung und noble Lebensart, ist inszeniertes Spiel mit dem Tod und mit der Liebe, ist Recht durch Gewalt und oft genug Gewalt ohne Recht, ist höchster Anspruch und banaler Alltag. Wer urteilen mag, sollte die Ritter nicht nur daran messen, wie ihnen zu leben gelang, sondern auch daran, wie sie zu leben beanspruchten und woran sie scheiterten.
 
Dr. Arnold Bühler
 
Grundlegende Informationen finden Sie unter:
 
Gesellschaftsordnung des Mittelalters: Die geistigen Grundlagen mittelalterlicher Ordnung
 
 
Bumke, Joachim: Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter. München 71994.
 Keen, Maurice: Das Rittertum. Aus dem Englischen. Lizenzausgabe Reinbek 1991.

Universal-Lexikon. 2012.

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